Die tabuisierte Frau
In meiner Kindheit und Jugend ist es mir erfolgreich gelungen, mich beim Lesen und Filmeschauen von meinem Geschlecht zu entkoppeln und mich ausschließlich mit den männlichen Autoren und den ihnen entsprechenden Protagonisten meiner Lektüre zu identifizieren. Als Mann durfte ich mir die Welt aneignen und Subjekt sein; als Frau hätte ich in die Rolle des Objekts schlüpfen müssen. In Folge fiel es mir leicht, in einem Museum der Maler zu sein, der sich sein weibliches Modell zurechtrückt. Ich war erfolgreich darin, den männlichen Blick anzunehmen.
Und auf Frauen herabzuschauen.
Ob das tatsächlich einen Erfolg dargestellt hatte, stellte ich spätestens während des Studiums in Frage: Konnte ich mir einen Platz in der Welt tatsächlich nur als Mann erobern? Wer war ich, wenn ich selbst schrieb? Und wer bestimmte, welche Sicht auf die Welt die Inhalte vorgibt, über die geschrieben werden darf?
Ich hatte seit frühester Kindheit geschrieben, meist aus der Perspektive des Mannes, doch nun begann ich, der Geschlechterkonfusion in meinem Inneren bewusst die Lektüre schreibender Frauen entgegenzusetzen: Neben Simone de Beauvoir und Christa Wolf las ich auch Prosa von Elfriede Jelinek und Ingeborg Bachmann, obgleich ich mich im Norden von Deutschland befand und die Erfahrung, in Österreich zu leben, noch nicht teilte. Andere Übereinstimmungen zu den von ihnen beschriebenen Erfahrungen überwogen, die schmerzhaften Variationen des Zwischen-den-Welten-Stehens, das Gefühl, als (künstlerisch tätige) Frau zu verschwinden, weil die eigene Stimme ungehört bleibt.
Sie erzählten von Frauenleben und -erfahrungen, die magisch sein können oder tödlich oder auch beides. Von der Vielschichtigkeit, Migrantin im Männerland zu sein. Hier bahnte sich eine Sprache den Weg in die Literatur, die Inhalt und Ausdrucksform erweiterte und das Spektrum menschlicher Erfahrung um einen Blick bereicherte: um allgemein Menschliches ebenso wie um spezifisch Weibliches.
„Was bringt mich dazu, die früh eingeprägte Mahnung: Nimm dich doch nicht so wichtig! zu mißachten? Selbstüberhebung?“, fragte sich Christa Wolf 1961 – und weiter: „Aber ist Selbstüberhebung, sich wichtig nehmen, nicht die Wurzel allen Schreibens?“
Während meines Studiums, also gut ein Vierteljahrhundert später, nachdem Wolf diesen Satz geschrieben hatte, schien langsam aber stet auch für Frauen selbstverständlich zu werden, was in hunderten von Jahren allein Männern zugebilligt worden war: Endlich, so dachte ich, steht nicht länger in Frage, dass dem Erleben einer Frau die gleiche Wichtigkeit gebührt wie dem eines Mannes. Immer lauter würden die Stimmen zu hören sein, die ich in Kindheit und Jugend vermisst hatte. Würde meine Stimme gehört, wenn ich schreibe, ohne vorzugeben, eigentlich keine Frau zu sein, sondern jemand, der an der männlichen Literatursphäre teilzuhaben versucht. Und deshalb, so folgerte ich, kann ich entscheiden, welche Inhalte meiner Literatur ich für relevant erachte. Kann ich mir erlauben, spürbar werden zu lassen, was sich aus meinem Denken und Fühlen formt. Der Versuch, dabei immer auch Perspektivwechsel vorzunehmen, ist Teil des literarischen Prozesses, aber trotz aller Empathie, die hier wirksam ist, wird es nie möglich sein, alle denkbaren Perspektiven gleichzeitig zu berücksichtigen und wäre meinem Verständnis von Literatur, die uns auffordert, einen Ausschnitt Leben näher zu betrachten, wohl auch nicht zuträglich.
Offenbar hatte ich mich getäuscht. Was Männern jahrtausendelang zugebilligt wurde, nämlich die Erlaubnis, selbst zu bestimmen, was als literarisch relevant gilt, und die Erlaubnis, eine einzelne spezifische Perspektive einzunehmen, gilt offenbar noch lange nicht für schreibenden Frauen. Was ist los mit dir, Frau?, scheint die Frage zu lauten, bist du nicht diejenige, die früh lernte, dich in ALLE hineinfühlen zu können?
Ich empfinde es noch immer als Bereicherung, lesend seit jeher wie selbstverständlich einen Einblick in männliches Denken und Fühlen bekommen zu haben, und verstehe das Schreiben als Versuch, zu verstehen, was in einem Menschen vorgeht. Als den Versuch, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, indem ich meinen Fokus auf einen spezifischen Aspekt richte, der eine spezifische Figuren-Konstellation nach sich zieht, die sich mir inhaltlich begründet und über die spezifische Perspektive entscheidet. Und ja, sie kann männlich sein, weiblich, transgender, niemals jedoch alles gleichzeitig.
So wählte ich für meinen letzten (noch unveröffentlichten) Roman beispielsweise doch wieder einmal einen Mann als Protagonisten, um ihn aus seiner Perspektive mit einer ihm fremden Sicht auf die Welt zu konfrontieren – vertreten durch ein Konsortium aus Frauen. Und erhalte die Expertise, dass biologische Geschlechter im gegenwärtigen Literaturbetrieb abgelehnt werden. Ich argumentiere, dass jede einzelne Sicht, in diesem Fall, einen Unterschied von Mann und Frau zu behaupten, Anstoß zur Diskussion sein kann, da sie keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Und bekomme zur Antwort, dass der aktuelle Diskurs es verlange, das binäre System der Geschlechter in Frage zu stellen.
Wer bestimmt, was geschrieben werden darf?
Ich halte an dem Manuskript fest, überarbeite und versuche, stärker hervorzuheben, dass es hier in erster Linie darum geht, eine feministische Sicht auf naturwissenschaftliche Standards zu entwickeln. Dennoch bekomme ich auf der Suche nach einem Verlag die Auskunft, trotz feministischer Absicht sei der Text nicht feministisch, da er erstens einen Mann zum Protagonisten mache, apropos Perspektive, und zweitens die Frauen in die Nähe von Begriffen wie gebären und Geburt rücke, was dahingehend missverstanden werden könne, dass eine Frau über ihre Gebärmutter definiert werde. „Tota mulier in utero“ – gegen diese Definition habe bereits Simone de Beauvoir gehöhnt. Die Frau im Zusammenhang mit ihrer Gebärfähigkeit zu erwähnen, so ein weiterer Einwand von anderer Seite, könne zudem als transphob interpretiert werden.
Folgende Fragen stellen sich hingegen mir: Hat Simone de Beauvoir sich nicht vielmehr gegen die Reduktion auf das biologische Geschlecht ausgesprochen? Gegen die Schlüsse, die aus der Gebärfähigkeit der Frau für ihr soziales Leben abgeleitet wurden? Und: Ist es tatsächlich nicht möglich, sich als Frau auf biologische Merkmale zu beziehen, ohne den Verdacht zu erwecken, Transfrauen ausgrenzen zu wollen (meine Vermutung ist dahingehend, dass nicht-binäre Personen aufgeschlossener sind als der Literaturbetrieb ihnen zu attestieren scheint)? Und weiter: Wenn wir in der Literatur nach einer Sensibilisierung der Begriffe von Mann und Frau streben, schließt das spezifisch weibliche und spezifisch männliche Texte aus? Oder erweitert sich das Spektrum abermals, ohne es an anderer Stelle wieder einschränken zu müssen?
Ich bin froh, dass das Verständnis von Geschlechteridentität fließender geworden ist, froh, dass nicht mehr alle und alles ausgegrenzt wird, was nicht weiß und männlich ist, sondern zu Wort kommen darf. Und eben darum möchte ich als Frau, die nach einigen Irrungen endlich ihre Stimme gefunden hat und sich erlaubt, beim Schreiben – wie viele Autoren vor ihr – aus ihrer Wahrnehmung des Lebens zu schöpfen, nicht abermals verstummen müssen. Möchte ich weder mein Denken noch mein Schreiben in neue Schubladen zwängen, wenn es doch nach lang vermisster Vielfalt strebt.
Sollte mein Manuskript dem Geschlechter-Begriff hinterherhinken, so breche ich mir ein Bein, denn meine Gedanken eilen voraus: Vorbei an den überwunden geglaubten Vorgaben, worüber es sich schreiben ließe und worüber besser nicht. Ich will mir erlauben, das Vorhandensein meiner Gebärmutter nicht verstecken zu müssen, nur um part of the game sein zu dürfen. Ich denke und hoffe nämlich, dass wir gesellschaftlich an einem Punkt angelangt sind, zwischen Mutterschaft und Mütterlichkeit unterscheiden zu können. Weder geht es darum, sich für Kinder zu entscheiden oder dagegen, noch darum, sie als Vater oder Mutter, als homosexuelles Paar, allein, im Verbund oder im Dorf aufzuziehen, sondern allein darum, dass gegenwärtig NIEMAND mehr gezwungen sein sollte, die eigene Identität vom Körper entkoppeln zu müssen, um teilhaben zu dürfen am Chor der Stimmen.
Es lebe die Polyphonie!
Das Thema meines Romans behandelt im Übrigen nicht das Gebären, sondern die Geburt als Sinnbild allen Lebendigen, das jeden Menschen, Frauen, Männer, Transfrauen, ***, daran erinnert, Teil dieser Welt zu sein.
Vielleicht gibt es keinen Verlag für das, was ich zu erzählen versuche. Und somit eine (meine) Stimme weniger, um oben aufgeworfene Fragen zu stellen, auf die es sicher so vielfältige Antworten wie Sichtweisen gibt.
Eine letzte Frage: Bleiben wir neugierig?
Ansonsten bliebe abermals nur der Riss in der Wand.
(Zitat aus: Wolf, Christa, Ein Tag im Jahr (1961): 25)
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