Nicht zuletzt aufgrund meines Atelier-Aufenthalts in Paliano, der mir Zeit und Muße gab, schreibe ich endlich meine Ode an die Literatur.

Drei verschiedene (fiktive) Personen schreiben in Form von drei Briefen verstorbenen Literat*innen. Dabei gewähren sie Einblick in die eigene Lesebiografie und gehen gleichsam eine Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Lebens-Phase ein. Die Literatur hilft ihnen über die Schwelle in einen neuen Lebensabschnitt hinweg, und hilft zudem, die jeweilige gegenwärtige Krise zu bewältigen. Es geht um Desorientierung während des Studiums, Unzufriedenheit mit der Bildungspolitik bei der Ausübung des Lehrberufs und schließlich um den Prozess des Älterwerdens als Frau.

Das individuelle Erleben meiner Figuren spricht in den Texten von dem, was uns Literatur zu geben hat: die Einsicht in allgemein menschliches Erleben.

Wir alle arbeiten uns auf die eine oder andere Weise an dem einen oder anderen Menschen ab, weswegen es ja umso zwingender wäre, Vorbilder zu haben, die Orientierung geben statt Rätsel, und es ist kein Zufall, dass auch im Wort Vorbild das Bild enthalten ist. (Felix, 21, an Franz Kafka)

Ja, zwischen rechter Gesinnung und Bildungshorizont, also was ich darunter verstehe: weit schauen können und über den Horizont hinaus, der niemals an dem Punkt endet, wo die Schule den Blick verstellt, gibt es erwiesenermaßen einen engen Zusammenhang. (Günther, 44, an Heinrich Böll)

Aber wehe, ich verhielte mich doch wie eine Frau, das heißt wie eine Frau, die sich statt für Intellektuelles für Windeln interessiert, nein, da lassen wir uns lieber ablichten, wie wir zwar in der Küche stehen, dort aber keinen Topf schwingen, sondern still die Zeitung lesen, um nicht Gefahr zu laufen, doch eine VON IHNEN zu sein. (Annette, 79, an Ingeborg Bachmann)

 

In meiner Kindheit und Jugend ist es mir erfolgreich gelungen, mich beim Lesen und Filmeschauen von meinem Geschlecht zu entkoppeln und mich ausschließlich mit den männlichen Autoren und den ihnen entsprechenden Protagonisten meiner Lektüre zu identifizieren. Als Mann durfte ich mir die Welt aneignen und Subjekt sein; als Frau hätte ich in die Rolle des Objekts schlüpfen müssen. In Folge fiel es mir leicht, in einem Museum der Maler zu sein, der sich sein weibliches Modell zurechtrückt. Ich war erfolgreich darin, den männlichen Blick anzunehmen.

Und auf Frauen herabzuschauen.

Ob das tatsächlich einen Erfolg dargestellt hatte, stellte ich spätestens während des Studiums in Frage: Konnte ich mir einen Platz in der Welt tatsächlich nur als Mann erobern? Wer war ich, wenn ich selbst schrieb? Und wer bestimmte, welche Sicht auf die Welt die Inhalte vorgibt, über die geschrieben werden darf?

Ich hatte seit frühester Kindheit geschrieben, meist aus der Perspektive des Mannes, doch nun begann ich, der Geschlechterkonfusion in meinem Inneren bewusst die Lektüre schreibender Frauen entgegenzusetzen: Neben Simone de Beauvoir und Christa Wolf las ich auch Prosa von Elfriede Jelinek und Ingeborg Bachmann, obgleich ich mich im Norden von Deutschland befand und die Erfahrung, in Österreich zu leben, noch nicht teilte. Andere Übereinstimmungen zu den von ihnen beschriebenen Erfahrungen überwogen, die schmerzhaften Variationen des Zwischen-den-Welten-Stehens, das Gefühl, als (künstlerisch tätige) Frau zu verschwinden, weil die eigene Stimme ungehört bleibt.

Sie erzählten von Frauenleben und -erfahrungen, die magisch sein können oder tödlich oder auch beides. Von der Vielschichtigkeit, Migrantin im Männerland zu sein. Hier bahnte sich eine Sprache den Weg in die Literatur, die Inhalt und Ausdrucksform erweiterte und das Spektrum menschlicher Erfahrung um einen Blick bereicherte: um allgemein Menschliches ebenso wie um spezifisch Weibliches.

„Was bringt mich dazu, die früh eingeprägte Mahnung: Nimm dich doch nicht so wichtig! zu mißachten? Selbstüberhebung?“, fragte sich Christa Wolf 1961 – und weiter: „Aber ist Selbstüberhebung, sich wichtig nehmen, nicht die Wurzel allen Schreibens?“

Während meines Studiums, also gut ein Vierteljahrhundert später, nachdem Wolf diesen Satz geschrieben hatte, schien langsam aber stet auch für Frauen selbstverständlich zu werden, was in hunderten von Jahren allein Männern zugebilligt worden war: Endlich, so dachte ich, steht nicht länger in Frage, dass dem Erleben einer Frau die gleiche Wichtigkeit gebührt wie dem eines Mannes. Immer lauter würden die Stimmen zu hören sein, die ich in Kindheit und Jugend vermisst hatte. Würde meine Stimme gehört, wenn ich schreibe, ohne vorzugeben, eigentlich keine Frau zu sein, sondern jemand, der an der männlichen Literatursphäre teilzuhaben versucht. Und deshalb, so folgerte ich, kann ich entscheiden, welche Inhalte meiner Literatur ich für relevant erachte. Kann ich mir erlauben, spürbar werden zu lassen, was sich aus meinem Denken und Fühlen formt. Der Versuch, dabei immer auch Perspektivwechsel vorzunehmen, ist Teil des literarischen Prozesses, aber trotz aller Empathie, die hier wirksam ist, wird es nie möglich sein, alle denkbaren Perspektiven gleichzeitig zu berücksichtigen und wäre meinem Verständnis von Literatur, die uns auffordert, einen Ausschnitt Leben näher zu betrachten, wohl auch nicht zuträglich.

Offenbar hatte ich mich getäuscht. Was Männern jahrtausendelang zugebilligt wurde, nämlich die Erlaubnis, selbst zu bestimmen, was als literarisch relevant gilt, und die Erlaubnis, eine einzelne spezifische Perspektive einzunehmen, gilt offenbar noch lange nicht für schreibenden Frauen. Was ist los mit dir, Frau?, scheint die Frage zu lauten, bist du nicht diejenige, die früh lernte, dich in ALLE hineinfühlen zu können?

Ich empfinde es noch immer als Bereicherung, lesend seit jeher wie selbstverständlich einen Einblick in männliches Denken und Fühlen bekommen zu haben, und verstehe das Schreiben als Versuch, zu verstehen, was in einem Menschen vorgeht. Als den Versuch, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, indem ich meinen Fokus auf einen spezifischen Aspekt richte, der eine spezifische Figuren-Konstellation nach sich zieht, die sich mir inhaltlich begründet und über die spezifische Perspektive entscheidet. Und ja, sie kann männlich sein, weiblich, transgender, niemals jedoch alles gleichzeitig.

So wählte ich für meinen letzten (noch unveröffentlichten) Roman beispielsweise doch wieder einmal einen Mann als Protagonisten, um ihn aus seiner Perspektive mit einer ihm fremden Sicht auf die Welt zu konfrontieren – vertreten durch ein Konsortium aus Frauen. Und erhalte die Expertise, dass biologische Geschlechter im gegenwärtigen Literaturbetrieb abgelehnt werden. Ich argumentiere, dass jede einzelne Sicht, in diesem Fall, einen Unterschied von Mann und Frau zu behaupten, Anstoß zur Diskussion sein kann, da sie keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Und bekomme zur Antwort, dass der aktuelle Diskurs es verlange, das binäre System der Geschlechter in Frage zu stellen.

Wer bestimmt, was geschrieben werden darf?

Ich halte an dem Manuskript fest, überarbeite und versuche, stärker hervorzuheben, dass es hier in erster Linie darum geht, eine feministische Sicht auf naturwissenschaftliche Standards zu entwickeln. Dennoch bekomme ich auf der Suche nach einem Verlag die Auskunft, trotz feministischer Absicht sei der Text nicht feministisch, da er erstens einen Mann zum Protagonisten mache, apropos Perspektive, und zweitens die Frauen in die Nähe von Begriffen wie gebären und Geburt rücke, was dahingehend missverstanden werden könne, dass eine Frau über ihre Gebärmutter definiert werde. „Tota mulier in utero“ – gegen diese Definition habe bereits Simone de Beauvoir gehöhnt. Die Frau im Zusammenhang mit ihrer Gebärfähigkeit zu erwähnen, so ein weiterer Einwand von anderer Seite,  könne zudem als transphob interpretiert werden.

Folgende Fragen stellen sich hingegen mir: Hat Simone de Beauvoir sich nicht vielmehr gegen die Reduktion auf das biologische Geschlecht ausgesprochen? Gegen die Schlüsse, die aus der Gebärfähigkeit der Frau für ihr soziales Leben abgeleitet wurden? Und: Ist es tatsächlich nicht möglich, sich als Frau auf biologische Merkmale zu beziehen, ohne den Verdacht zu erwecken, Transfrauen ausgrenzen zu wollen (meine Vermutung ist dahingehend, dass nicht-binäre Personen aufgeschlossener sind als der Literaturbetrieb ihnen zu attestieren scheint)? Und weiter: Wenn wir in der Literatur nach einer Sensibilisierung der Begriffe von Mann und Frau streben, schließt das spezifisch weibliche und spezifisch männliche Texte aus? Oder erweitert sich das Spektrum abermals, ohne es an anderer Stelle wieder einschränken zu müssen?

Ich bin froh, dass das Verständnis von Geschlechteridentität fließender geworden ist, froh, dass nicht mehr alle und alles ausgegrenzt wird, was nicht weiß und männlich ist, sondern zu Wort kommen darf. Und eben darum möchte ich als Frau, die nach einigen Irrungen endlich ihre Stimme gefunden hat und sich erlaubt, beim Schreiben – wie viele Autoren vor ihr – aus ihrer Wahrnehmung des Lebens zu schöpfen, nicht abermals verstummen müssen. Möchte ich weder mein Denken noch mein Schreiben in neue Schubladen zwängen, wenn es doch nach lang vermisster Vielfalt strebt.

Sollte mein Manuskript dem Geschlechter-Begriff hinterherhinken, so breche ich mir ein Bein, denn meine Gedanken eilen voraus: Vorbei an den überwunden geglaubten Vorgaben, worüber es sich schreiben ließe und worüber besser nicht. Ich will mir erlauben, das Vorhandensein meiner Gebärmutter nicht verstecken zu müssen, nur um part of the game sein zu dürfen. Ich denke und hoffe nämlich, dass wir gesellschaftlich an einem Punkt angelangt sind, zwischen Mutterschaft und Mütterlichkeit unterscheiden zu können. Weder geht es darum, sich für Kinder zu entscheiden oder dagegen, noch darum, sie als Vater oder Mutter, als homosexuelles Paar, allein, im Verbund oder im Dorf aufzuziehen, sondern allein darum, dass gegenwärtig NIEMAND mehr gezwungen sein sollte, die eigene Identität vom Körper entkoppeln zu müssen, um teilhaben zu dürfen am Chor der Stimmen.

Es lebe die Polyphonie!

Das Thema meines Romans behandelt im Übrigen nicht das Gebären, sondern die Geburt als Sinnbild allen Lebendigen, das jeden Menschen, Frauen, Männer, Transfrauen, ***, daran erinnert, Teil dieser Welt zu sein.

Vielleicht gibt es keinen Verlag für das, was ich zu erzählen versuche. Und somit eine (meine) Stimme weniger, um oben aufgeworfene Fragen zu stellen, auf die es sicher so vielfältige Antworten wie Sichtweisen gibt.

Eine letzte Frage: Bleiben wir neugierig?

Ansonsten bliebe abermals nur der Riss in der Wand.

(Zitat aus: Wolf, Christa, Ein Tag im Jahr (1961): 25)

Die (Buch)Messe ist voller Bücher, die (christliche) Messe ist es auch. Ja, dieses Jahr ging die Buchmesse für mich mit einem Literaturgottesdienst zu Ende – auf Einladung der sächsischen Kollegin Bettine Reichelt, die zugleich Pfarrerin ist.

Seit ich lesen kann, auch gern und viel, war das so ein Gedanke (Glaube?) von mir: dass die Worte uns retten werden, uns Menschen: vor unserem eigenen Gebrüll, mit dem wir den Schmerz zum Schweigen bringen sollen oder wollen. Mit Worten aber kannst du auch leise sprechen, überlegt, nicht im Sinne von überlegen, sondern von bedacht; da kannst du zeigen, was es dort alles gibt, unter unseren Schädeldecken und in den Herzen.

In Leipzig war es kalt, aber wortreich: während all der Begegnungen in all den parallelen Welten, in denen ich mich tummelte. Ob gemeinsam auf Lesungen mit Kollege Rudolf Habringer im Süden von Leipzig, bei der letzten ehrenamtlich betriebenen Gemeindebibliothek in Mölkau, in Zuckelhausen, in kalten Kirchen und bei aufmerksamen Katzen. Oder auf den Messeständen der Verlage, hier vor allem zu Besuch bei meinen Verlegerinnen Laura Rösner von Edition Roesner, in der ein Vorabdruck meines Romans Barcelona Dream präsentiert werden konnte, der ab Ende Mai im Handel sein wird, und Monika Fuchs vom Verlag Monika Fuchs, wo ich zur Signierstunde der Neuauflage von Der Rabe ist 8 geladen war: Die Menschen sind hier wie dort Suchende, und so lange sie es sind, ist die Literatur vieles, aber sicher nicht tot, ja, noch immer glaube ich vor allem an eines: an die Kraft der Worte und daran, dass die Worte uns weiterhin erreichen und berühren werden und daran erinnern, warum wir leben.

Weil wir Liebende sind?

Jean-Paul Sartre schreibt: „Das ist der Grund für die Liebesfreude, wenn sie existiert: uns gerechtfertigt fühlen, dass wir existieren.“

Danke an Linz Kultur für die Unterstützung der Reise.

Weltweit bricht eine Netflix-Serie alle Streaming-Rekorde: Über 64 Millionen Haushalte weltweit sahen die dritte Staffel allein in den ersten vier Wochen und verfolgten mit Spannung die Geschehnisse in Hawkins, warteten geduldig auf die vierte Staffel, die ebenso erfolgreich war; nun beginnt das Warten auf die fünfte.

Die Rede ist natürlich von Stranger Things, so der Name der von den Duffer-Brüdern für Netflix entwickelten Geschichte, die alle Menschen der älteren Generation zurückführt in die Achtziger und ihnen entzückt die Gegenstände vor Augen führt, die ihr eigenes Jugendzimmer bevölkert haben, während sie ebendort die Musik in Erinnerung ruft, die aus unseren Kassetten-tapes brummte – in miserabler Qualität, verglichen mit der, die nun überrascht aufhorchen lässt. Und auch die jüngere Generation führt sie somit in die Vorstellung der vergangenen Zeit, aber zugleich, und was viel wichtiger ist, führt sie uns alle gemeinsam zugleich hinein in die tiefen Schichten des Verdrängten. Ja, dort hockt es, das Verdrängte: im Upside Down, unter uns, oder auch über uns, in eben der Welt, die wir bewohnen, in einer Schicht, die wir lieber nicht anschauen (außer auf Netflix). Denn dort landet all das, was wir in unserer Tagwelt nicht gebrauchen zu können glauben. Das Upside Down erscheint als Sinnbild des Unbewussten, während das Unbewusste wiederum als ein Hort von Vertrautem gilt, das verdrängt werden musste, um in die symbolische Ordnung* treten zu können.

Laut Freud besteht die Funktion des ES für die Gesellschaft (in diesem Falle: für Hawkins) darin, dass der Mensch nur auf Grundlage dieses verdrängten Triebhaften eine Zivilisation errichten und als gesellschaftliches Wesen agieren kann. Er braucht also einen Ort, wo er seine unaustilgbare animalische Natur verstecken kann: Das dämonisch Fremde ist zwar ein dämonisch Eigenes, jedoch in das Vergessen gerückt.

Sollte es Stranger Things gelingen, das in Erinnerung zu rufen? Womöglich zugleich zu erzählen, wie wirksam diese Verdrängte sich global über (unter) die gesamte Welt spannt und zu einem gefährlichen Gewebe verklebt, das kaum mehr zu durchtrennen ist, sondern an mehreren Stellen der Welt gleichzeitig aufbricht und alles Lebenden bedroht, ja, das Leben als solches? Wenn dies gelänge, dann zeigte das abermals, inwieweit das filmische Erzählen seinerseits mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwoben ist und aufgreift, was allerorten spürbar ist.

Mit dieser Verwobenheit allerdings geht auch die Verantwortung einher, die erfolgreiche Serien innehalten. Denn sie sind gegenwärtig die Ausdrucksform filmischen Erzählens, der es gelingt, die größte Zahl von Menschen zu erreichen, sodass sie, gewollt oder nicht, wie alle Geschichten Einfluss nimmt auf das Bild, das wir uns von der Welt zeichnen, und von der Idee, wie wir Menschsein begreifen. Netflix wächst derzeit zu dem potentesten Geschichtenerzähler unserer Zeit und prägt maßgeblich ganze Generationen generationsübergreifend.

Und weil dem so ist, und weil in dieser Möglichkeit globalen Erzählens im Sinne der Reichweite nicht nur Macht, sondern auch Chance liegt, ist es umso wichtiger, sich eben den Erzählinhalten gewahr zu werden, ja, sie gegebenenfalls zu überprüfen.

Meine Euphorie über die Darstellung des Mechanismus‘ von Verdrängung und der offenkundigen Notwendigkeit, einen Blick in das Upside Down zu werfen, warf sich in Staffel Vier auf die Figur des Eddie Munson. Nicht nur, weil er mich an eigene Runden von Dungeons & Dragons erinnerte, denen ich einst (wenn nicht auf einem amerikanischen College, so wenigstens auf der Schwäbischen Alb) beiwohnen durfte, und ich einen Dungeon-Master bisher selten so realitätsnah in einem Film abgebildet sah, sondern gleichsam, weil Eddies forsches Auftreten, gepaart mit seinen tiefsitzenden Ängsten und Enttäuschungen, die offen zutage treten, ebenso realitätsnah erscheinen. Schließlich ist es stets begrüßenswert, Figuren zu erschaffen, die in ihrer Ambivalenz liebenswert sind und nicht durch die Attribute gut – böse, hübsch – hässlich gekennzeichnet werden, kurz: jenseits der üblichen Klischees liegen.

Aber dann wird die Figur doch wieder zum Klischee, dem der nordamerikanische Mainstream offenbar nicht entkommt (heute weniger denn je). Der Mythos des Helden scheint unausrottbar, und so muss Eddie (Achtung Spoiler!) am Ende sterben, indem er sich, wie es auf kino.de heißt „im Finale heldenhaft für die anderen Figuren opfert.“ Und Joseph Quinn, der Schauspieler, drückt es so aus: „Er hat das ultimative Opfer für eine Stadt erbracht, die ihn für ein Monster gehalten hat. Das ist ein Level an Heldenhaftigkeit, das schwer zu verstehen ist.“

Wieder transportiert die Serie an dieser Stelle doch nur die alten Botschaften, obwohl sie nicht länger zeitgemäß scheinen. Denn: Brauchen wir ihn tatsächlich noch? Den Helden, der sich unerschrocken jedem noch so aussichtslosen Kampf stellt?

Vielmehr gilt stattdessen zu bedenken und all jenen nahezubringen, die filmische Werke konsumieren: Woher stammen sie, von wem sind sie gemacht, welche Mythen werden hier transportiert?

Für mich stellt es sich so dar: Niemand sollte sinnlose Opfer erbringen, um als Held gefeiert zu werden. Dier Tod ist überflüssig. Weglaufen ist erlaubt. Feige sein ist erlaubt, zumal, wenn eine Schar wild gewordene, nennen wir sie: Fledermäuse, hinter dir her sind. Sie abzulenken, ist Eddie bereits gelungen, als er sich erinnert an seine Worte: „We are not heroes“, sich jedoch entscheidet, eben diese Erkenntnis nicht stehen zu lassen (und sich nicht zu erlauben), sondern doch noch zum Helden zu werden. Nicht abzuhauen, sondern den Viechern entgegenzutreten, um später stolz zu hauchen: „I didn’t run away this time“. Das allein scheint wichtig angesichts des Todes, führt aber letztlich zu nichts außer der Bestätigung der Idee, ein Held zeichne sich dadurch aus, bereit zu sein, das eigene Leben zu opfern, auch wenn ein Kampf nicht zweckmäßig ist und nicht auf Augenhöhe stattfindet.

Lauft weg, liebe Leute, so würde ich die Geschichte (weiter)erzählen, lauft, denn es spricht nichts gegen die Flucht, wenn die Lage aussichtslos ist. Und dann, aus dem Versteck heraus, angekommen an einem sicheren Ort, überlegt, was zu tun ist und versucht, menschlich zu handeln. Zum Menschen gehören seine Ängste, ja, all das, was verdrängt worden ist und nun im Außen versucht wird, zu bekämpfen. Richtet den Blick in euch und prüft, mit welchen Dämonen ihr es aufnehmen wollt. Am besten mit den eigenen. Womit wir wieder bei Freud wären und bei dem, was geschieht, wenn verdrängt wird, was Teil von uns Menschen ist.

Wie schön wäre es gewesen, wenn Eddie nicht als Held, sondern als Eddie geliebt worden wäre. Endlich einmal: einfach so. Ohne den Helden spielen zu müssen. Doch so wird der Preis der Heldenerzählung nicht nur mit einem Figurenleben bezahlt, sondern mit dem Gehalt der Erzählung selbst.

Aber wer weiß: Vielleicht gibt es doch noch eine unerwartete Wendung. Warten wir die fünfte Staffel ab und lesen so lange Freud. Oder hören Kate Bush:

Ooh, there is thunder in our hearts.

*(Der Begriff der symbolischen Ordnung wird von Jacques Lacan entwickelt und bezeichnet sowohl gesellschaftliche Beziehungen als auch die Struktur der Sprache. Beiden gemeinsam ist, dass sie ein System bilden, in das sich das Einzelne erst hineinfinden muss.)

„Öffne deinen Schädel doch nur einen Spalt, damit ich deinen Geist erkunden kann“, lautet ein Satz, den die Ich-Erzählerin meines letzten Romans Kafka zuspricht, obwohl er dem Schädel eines Kommilitonen entsprang. Die Zeile kommt ihr bei dem Gedanken in den Sinn, „wie hübsch konservenmäßig geschlossen ein Schädel doch ist. Und dann überlege ich, wie der passende Büchsenöffner aussehen müsste. Liebe vielleicht?“ (1)

Die Literatur vielleicht?

Schreibend tätig zu sein, kann vielerlei bedeuten: Kommendes vorwegnehmen. Vergangenes beschreiben. Bekanntes neu zusammenfügen oder das Unbekannte hervorholen. Ich finde mich darin wieder, wenn Christa Wolf sagt, für sie sei das Schreiben immer mehr der Schlüssel zu dem Tor geworden, hinter dem die unerschöpflichen Bereiche ihres Unbewussten verwahrt seien. (2)

So vielfältig die Ansätze, zu schreiben, also auch sein mögen: Stets öffnet die Literatur eine Tür, die uns in in die Köpfe anderer Menschen eintreten lässt und somit Einblicke in ihr Denken und Fühlen gewährt.

Diese Möglichkeit ist es, die mich an der Literatur, schreibend und lesend, immer am meisten interessierte und interessiert, denn sie leistet, was auch jede unvoreingenommene Begegnung leisten kann. Vorausgesetzt, sie wird von Neugier begleitet. Von der Neugier, uns neben dem Bekannten ebenso mit all dem zu konfrontieren, was wir ablehnen, auch, oder gerade, wenn es auf die eine oder andere Art Unbehagen auslöst.

Freud schreibt: „Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“ (3), also eigene verdrängte Ängste und Wünsche, in denen sich die Facetten unserer Erfahrung und unseres Menschseins zeigen, die ganze Bandbreite dessen, was sich menschliches Leben nennt, einschließlich des Todes.

Und so kann uns manch literarischer Text unheimlich erscheinen, wann immer es ihm gelingt, eine Sprache für das zu finden, was wir von uns weisen möchten, statt es in die Schatten zurückzudrängen, denen es zu entstammen scheint. Denn in den Büchern, da laufen sie ungehemmt herum, die Figuren, und begegnen auf die eine oder andere Art diesem Zurückgedrängten, indem sie die Konfrontation mit sich selbst nicht scheuen oder in anderen gespiegelt sehen, was sie zu vermeiden trachteten. Und mehr noch: Die Leserinnen selbst sehen sich gespiegelt, sobald sie hineinschlüpfen in die Buchseiten und dort dem Fremden begegnen, das sich in dieser oder jener Figur zeigt.

Oder gar in einem Gespenst?

Das Gespenst, das in der Literatur herumwandert, schaut uns aus den Buchseiten entgegen und lässt uns das zurückgedrängte Vertraute als Fremdheit in uns selbst erblicken.

Wie unheimlich ist das, bitte?

Ja, in den Varianten der beunruhigenden Fremdheit zeigen sich Verhaltensweisen, die wir nicht an den Tag legten bisher, Gefühle, die wir nicht kennen oder nicht zu kennen behaupten, und die uns dennoch näher sind als wir wahrhaben wollen, denn alle teilen wir die Erfahrung von Menschsein und damit auch die Bandbreite der menschlichen Emotionen.

Und deshalb erscheint mir vielmehr beunruhigend, wenn Verlage darüber nachzudenken beginnen, oder bereits durchsetzen, was anderorts, zum Beispiel auf Netflix, ohnehin üblich ist: Trigger-Warnungen auszusprechen und Sprache zu beschränken, in der sich Unerwünschtes abzubilden scheint. Dadurch sollen die Leserinnen davor geschützt werden, sich ein Buch zuzumuten, das Inhalte transportiert, die Unwohlsein hervorzurufen imstande ist. Es wird wohl als Dienst an den Kundinnen verstanden, vorzuwarnen, wenn ihre Gefühle durch Sprache, Denken oder Verhalten einer Figur, verletzt werden könnten, gleichgültig, ob sie dem Spektrum des menschlichen Daseins entsprechen mögen.

Die gute Nachricht: So müssen wir uns weder länger mit Motiven von Andershandelnden auseinandersetzen noch mit den Motiven von Andersdenkenden. Müssen weder unsere moralischen Urteile überdenken noch die eigene Blase je verlassen.

Die schlechte Nachricht: Wir müssen die eigene Blase nicht verlassen.

„Es trägt dem, der weise werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeitlang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu haben“, schreibt Nietzsche 1886 (4) und räumt zugleich ein, dass die Vorstellung vom „bösen“ Menschen ebenso falsch sei wie die Vorstellung des sich moralisch überlegen fühlenden Menschen, der vorgibt, ihm seien sogar gedankliche Kränkung und Bosheit unbekannt.

Als Autorin versuche ich stets, eine Sprache zu finden für die Empfindungen und Widersprüche, für Ungewolltes und Abgelehntes sowie für Erwünschtes und Ersehntes, nicht aber moralisch abgesichert zu schreiben, um das Versprechen einzulösen, niemandem wehzutun. Dieses Vorgehen speist sich aus der Überzeugung, dass jede noch so unbequeme Perspektive zu einem gegenseitigen Verständnis beiträgt. Sich allein mit dem zu beschäftigen, was mich nicht anficht und dabei der Konfrontation auszuweichen mit allem, was der Mensch zu tun in der Lage ist, sich allein mit Büchern auseinanderzusetzen, die mir die eigene Weltsicht bestätigen, verhindert den Blick auf das, was uns allen innewohnt, uns womöglich in oben beschriebenem Sinne bisher fremd geblieben ist.

Literatur drückt das Gemeinsame aus, das Verbindende. Sie ist kein Dienst an den konsumierenden, sondern an den Menschen in seiner Ganzheit. Sich wohlfühlen mag ein Maßstab für den Möbelkauf sein, nicht aber für das Lesen von Büchern. Weichen wir nicht aus. Begegnen wir den eigenen Verletzungen und Abgründen und suchen, sie auszudrücken. Verlassen wir die Komfortzonen, in denen wir uns nur deshalb möglichst wohlfühlen sollen, um weitere Wohlfühlgegenstände um anzusammeln und an Lifestyles zu stylen, die uns zu unterscheiden trachten. Denn literarische Begegnungen im vorauseilenden Gehorsam von aller Unbehaglichkeit zu reinigen, führt zu einer Kultur, die dem Menschen nichts zuzumuten traut.

Und so werde ich weiterhin meinem Antrieb folgen, Figurenrede und Autorinnenmeinung zu unterscheiden und eben diesen Figuren, mit denen ich nicht immer einer Meinung sein muss, schreibend und lesend zu begegnen: ob Täter oder Opfer, schwarz oder weiß, jung oder alt, Mann oder Frau. Mit all ihren Haken und Ösen und Abgründen. Mit Widersprüchen, Ängsten, Freude, Aggression und Hoffnungen.

In all ihrer Vielfalt.

 

(1) Antelmann, Corinna. Drei Tage drei Nächte. Wien, 2018: 224

(2) Vergl. Wolf, Christa (1986): Die Dimension des Autors, Bd II. Essays und Reden I und II, Gespräche Auswahl: Angela Drescher. Berlin/Weimar

(3) Freud, Sigmund. Das Unheimliche. Bd 12: 231

(4) Friedrich Nietzsche. Menschliches, Allzumenschliches. Leipzig, 1930: 67

 

Erschienen in den bibliotheksnachrichten 2022_2

… geschrieben anlässlich des Krieges in der Ukraine, „um nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das mich anspringt, der Ohnmacht, die mich niederreißt“ …

Hier der Anfang des (unveröffentlichten) Textes mit dem Titel Die andere Geschichte:

Es schreibt uns.

Wo nur habe ich das gelesen? Oder will ich es gelesen haben, denn das hieße ja, es gibt jemanden, dort oben unter der Decke hinter den Leuchtstoffröhren, der uns beobachtet und die Erzählung steuert, auf die wir zusteuern.

Womöglich ein Gott?

Sagen wir: Dort sitzt eine wilde Frau, die den Blick überall hat, auch ohne Kameras aufstellen zu müssen. Die beobachtet und dann den Rotstift nimmt und die ein oder andere Zeile im Text ausbessert. Und schließlich das Ende umschreibt. Oder hier und da eine weitere Figur einfügt. Ja, dieses „es schreibt uns“ entspricht einem Götterbild, aber nun lass mich diese Frau sein und Göttin spielen. Nur diesen einen Tag lang werde ich es sein, die sich anmaßt, die Geschicke der Welt zu beschreiben, genauer gesagt: umzuschreiben.

An die Decke gegangen bin ich bereits, denn du, lieber Sohn, hast dich freiwillig zum Kämpfen gemeldet, was immer das heißt in diesem Zusammenhang: freiwillig. Die vermeintliche Freiwilligkeit folgt der Erzählung, dass es ein Böse gibt und ein Gut und es heldenhaft sei, eine Waffe zu tragen, und da sind wir mittendrin in dem Schlamassel, der sich offenbar noch nicht ausschlamasselt hat, so lange das Kämpfen mit Waffen als Option gesehen wird.

Aber es ist keine Option. Zu keiner Zeit. Niemals.

Und deshalb bin ich angetreten, die Erzählung zu verändern, denn sie entbehrt der Vollständigkeit, wie so viele andere vor ihr, weil die Geschichten seit Jahrtausenden aus der immergleichen Perspektive erzählt werden, geflossen aus einer männlichen Feder. Du magst behaupten, es sei gleichgültig, aus welcher Perspektive wer was erzählt, aber, mein Lieber, es sollte dir keinesfalls gleichgültig sein. Bis der Ursprung der Geschichten nicht hinterfragt wird, werden sie weiterhin allein in einer bestimmten Art und Weise verfasst, in diesem Falle als Heldengeschichte: Der Held, der losgeht, kämpft und siegt. Sie werden nach ein und demselben Muster gestrickt, an dem wir festhängen, ohne je zu überprüfen, ob die Annahme, dass uns allein die Taten voranbringen, tatsächlich hält. Die Maschen sind eng gesetzt, obgleich das Strickmuster womöglich nur eines von vielen anderen möglichen ist.

Das soll ein Ende haben.

Ja, nenn mich hybrid, aber wenigstens diese eine Geschichte hier werde ich in meinem Sinne schreiben, denk dir nur, mein Sohn. Darf ich das? Was frage ich dich! Nein, um Erlaubnis muss ich nicht bitten. Niemand hat je um Erlaubnis gebeten, eine Geschichte so oder anders zu schreiben, oder was meinst du?

So werde auch ich nicht fragen, sondern egoistisch sein und mir die Seele freischreiben, um nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das mich anspringt, der Ohnmacht, die mich niederreißt. Hilflos schaue ich dir nach und schaue mich um und setze der Hilflosigkeit das Einzige entgegen, was mir derzeit zur Verfügung steht: schreiben. Was sonst könnte ich tun, angesichts des Zustands der Welt? Die Antwort lautet: Ich kann nur tun, was ich immer tue und damit der Erzählung eine unerwartete Wendung geben, ihr möglicherweise sogar eine Lösung anhängen. Da kannst du sagen, ich sei naiv oder utopistisch oder was auch immer: Es ist die Kraft der Erzählung, die uns in die eine oder andere Richtung marschieren lässt. Und manchmal auch in den Krieg.

Stopp.

Er ist keine Option, niemals, schrieb ich das nicht bereits?

[…]

Kopfkino. Bericht aus dem Inneren.

Ursprünglich als Filmprojekt geplant konzipiere ich derzeit einen Theaterabend, der auf einzelnen, intimen Gesprächen mit Männern zwischen 17 und 65 Jahren basiert. Sie wurden und werden von Christian Oberndorfer und mir geführt. Dadurch dass wir ihnen den Raum schenken und einfach zuhören, kann zu einer ungewohnten Art der Offenheit gefunden werden, die männliche Sexualität in all ihren Facetten miteinschließt. Die Interviews geben Einblick in Vorstellungen, die Männer in Bezug auf das Thema Sex entwickeln, auch in Hinblick darauf, wie diese sich im Laufe der Jahre verändert haben: Welche Bilder gibt es über den Sex und beim Sex? Wo führen diese männlichen Bilder möglicherweise zu Verbiegungen, wenn sie innerhalb der Paarbeziehung tabuisiert werden müssen?

Müssen sie?

Anonymisiert werden die Interviews, von drei Schauspielern gesprochen, schließlich in einem spartanisch eingerichteten Bühnenraum öffentlich gemacht: unkommentiert, unzensiert, unbewertet. 

Wir glauben, dass die Auseinandersetzung mit Männlichkeit ein Gewinn für alle sein kann, denn obgleich so viele Formen von Männlichkeit existieren, wie es Männer gibt, ist das Männlichkeitsbild im Patriarchat weltweit starr und aufgeladen von althergebrachten Klischees wie Leistungsfähigkeit, Potenz, Dominanz, Selbstbeherrschung. Oder um es mit JJ Bola zu sagen: „Männer ist nicht gleich Patriarchat. Es braucht eine Männlichkeit, welche die Notwendigkeit für Geschlechtergerechtigkeit erkennt und sie sich auch  herbeiwünscht.“

Kann die Reflexion darüber die Erwartungen an das eigene Männer-Ich eine partnerschaftliche Liebesbeziehung positiv revolutionieren?

Wir suchen übrigens auch weiterhin Männer zwischen 17 und 65 Jahren, die bereit sind, sich auf ein Gespräch einzulassen. Bei Interesse bitte mich kontaktieren.

Der Krieg ist schuld und immer wieder der Krieg, er lässt die Menschen nicht sein, wie sie sind, wann immer sie lebten oder noch leben werden, es sind seine Spuren, die sich so nachhaltig in die Seelen graben, dass Kieselsäureester nichts ausrichten kann und auch keine Anstrengung und keine Flucht. Der Krieg wird mitgenommen von Ort zu Ort, von Generation zu Generation, er tötet die Liebe, und das ist die Wahrheit. Ja, selbst aus den Gräbern grinsen sie einen an, die Zeichen des Krieges, dieses einen und des anderen, aber das spielt keine Rolle. Der eine Krieg zieht auf der Flucht vor dem vorherigen den nächsten nach sich und der dritte auf der Flucht vor dem zweiten den vierten. Die Gewalt wird weitervererbt, während die Narben durch die Zufügung neuer Narben gesalbt werden, denn wenn ich dir wehtue, tut es mir weniger weh.
Vererbte Irrtümer.
Irgendetwas geschieht mit uns allen, es durchfährt uns, ohne dass wir wissen, was es ist und warum. Aber wo bin ich, und wie finde ich von hier wieder heraus? Diese Geschichte geht mich an, sie erzählt von der Gegenwart. Krieg hat seine Zeit, und Friede hat seine Zeit, so heißt es, aber der Krieg sollte keine Zeit haben.
Zu keiner Zeit. Niemals.

(Hinter die Zeit, Septime Verlag, 2015)

Die Leiden dees Krieges lassen verstummen, so war es immer. Bis die Sprache zurückkehrt. Ich erinnere mich, wie die Großtanten schwiegen, zumal Teil des Tätervolks und somit nicht berechtigt zum Fühlen von Schmerz. Vererbte Irrtümer. Später dann gab es eine Zeit der Aufarbeitung und des Ausdrucks über alles Leid. Über den Schmerz, den der Krieg hinterlässt, über die Wunden, die kaum je heilen können. Ja, soviel wurde geschrieben und gemahnt, bedacht und betrauert, bis deutlich zu werden schien: Im Krieg gibt es allein Verlierer. Schien es nur mir, als wären wir seither auf dem Weg in ein offenes Miteinander gewesen, das keine Gegensätze aufbaut, sondern Brücken? Dass keine Fronten mehr schaffen will, sondern um Verständigung ringt? Keine Feindbilder aufbaut, sondern zeigt, dass alle einfach nur  leben und leben gelassen werden wollen in ihrer Verschiedenheit?

Aber so war es doch! Wir hatten zu reden begonnen, um das Gemeinsame zutage treten zu lassen und zu erfahren, dass alle immer nur das eine sind: Menschen. Menschen mit ihren Ängsten und Zweifeln und Irrtümern und Irrwegen. Mit ihren Verletzungen, die nach Heilung rufen, um nicht als Verdrängtes hervorzubrechen und Unheil hervorzurufen.

Reden wir weiter und suchen nach dem, was eint, nicht trennt.

Und deshalb habe ich immerzu diesen Satz im Kopf und kann ihn nicht naiv finden: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Weil niemand töten will. Und niemand dazu gezwungen werden sollte.

Zu keiner Zeit. Niemals.

Ursprünglich bereits für den November 2021 geplant, werden wir die Veranstaltung auf jeden Fall nachholen. Inzwischen müssen wir abermals einem Krieg in Europa beiwohnen, als hätte es die Aufarbeitung von Geschichte, wie Pollack sie betreibt, die Warnungen und das Waren von Erinnerung an seine Schrecken, nicht gegeben. Umso wichtiger, das Erinnern weiterhin zu betreiben, auch in Hinblick darauf, wie lang ein Krieg weiterwirkt, ebnénso wie einmal geschürter Hass und injizierte Feindbilder.

In seinem Buch zeichnet Pollack das Leben seiner Großtante Pauline in der slowenischen Marktgemeinde Lasko/Tüffer nach. Auch meine Großtante war Opfer des Krieges. Ich fragte meine Großtante und ihre beiden Schwestern, alle drei von dicken, schützenden Schichten Körper umgeben: „Wovor schützt ihr euch?“ und kannte die Antwort bereits, auch ohne sie je zu erhalten. Denn sie konnte nicht darüber sprechen und folgte damit einem unausgesprochenen Verbot: Nicht Opfer sein zu dürfen, auch unabhängig vo ihrer Gesinnung, mit der sie sich von Anfang an, wie der Vater, gegen Adolf Hitler gestellt hatte. Da sie dem „Tätervolk“ entstammte, das an einer „nationalen Schuld“ zu tragen hatte, blieben ihre Erfahrungn der Flucht aus Schlesien und die Verletzungen, die ihr aufgrund ihrer Herkunft auch als Frau zugefügt wurden, ungehört.

Ich liebte diese Großtante, ihr großes Herz hatte sie sich zeitlebens bewahrt, aber je älter ich wurde, desto mehr Fragen tauchten auf, nämlich: Wie hatte sie sich eben dieses große Herz bewahren können, nach allem, was sie erlebt haben musste? Darüber las ich in Augenzeugenberichten, die erst Jahrzehnte später verfasst worden waren, Jahrzehnte, in denen der Schmerz sich soweit gesetzt hatte, dass die einst Geflohenen ihre Sprache wiederfanden – als Form der Selbstermächtigung. Diese Sprache brach sich erst dann den Weg, als weil es manchen von ihnen unmöglich geworden war, die Erfahrungen weiterhin zurückzudrängen. Sie unter Verschluss zu halten aber mochte ihnen zuvor notwendiger erschienen sein als das Sprechen, um nicht einzuknicken, in anderen Worten: um überleben zu können.

Weiterzuleben.

Das Gefühl des Wohlbehagens zwischen dicken Decken und dicken Tanten wird herausgerissen von der Erkenntnis, dass die altruistische Großtante jeden Tag auf den Heuboden versteckt werden musste, weil der Krieg kein Schamgefühl kennt. Und auch der Frieden tut sich  schwer mit diesem Schamgefühl. Die Verbrechen der Kriege verfolgen uns alle, solange wir die Geschichten nicht thematisieren, die der Großtanten, die unsrige, die gegenwärtige.

Umso mehr freue ich mich auf die noch bevorstehende Begegnung mit Martin Pollack, und dass wir über die Auswirkungen von Krieg sprechen können, der trennt statt vereint, und Familiengeschichte ebenso prägt wie die Weltgeschichte. Wie er teile auch ich die Überzeugung, dass „wir heute alle Geschichten erzählen können, vielleicht sogar müssen, ohne Zorn und Eifer, ohne etwas zu verschweigen oder auszublenden […].“

Die Matinee mit der Lesung aus „Die Frau ohne Grab“ wird in der Ottensheimer Bibliothek stattfinden, sobald es geht.

Bis dahin lege ich jeder und jedem die Lektüre des Werkes von Martin Pollack ans Herz.

Gerda Lischka leiht meinem Text „Die vergessene Wiege“ in gekürzter Lesefassung im ORF ihre Stimme und trifft genau den Ton – wie wunderbar!

Der Text ist von mir als Ode an die Generationen von Müttern gedacht, die vor uns gelebt haben und ins Vergessen gerutscht sind. Denn je älter ich selbst werde, desto zorniger (oder auch: ratloser, aufmerksamer?) lassen mich Geschichten von (nun erwachsenen) Kindern werden, die um die Leistungen der Väter kreisen, sodass oftmals der Eindruck entsteht, es habe nie je eine Mutter existiert oder jedenfalls nichts Nennenswertes beigesteuert durch ihr Sein. Ihre Stimme verstummt mit ihrem Tod, kein schriftliches Zeugnis wird hinterlassen, keine materielle Spur. Hier also der Versuch, sie hörbar werden zu lassen, diese Stimmen.

Jede Frau kann stolz sein auf ihre (oftmals doppelte) Produktivität. Nur über das Lebendige kommt Leben in die Welt. Mir geht es um das Bewusstsein über den Wert der Mütterlichkeit (der entsprechend honoriert gehörte, das auch), die im Übrigen nicht mit Mutterschaft gleichzusetzen ist, das heißt, daraus lässt sich keineswegs ableiten, wem die Familenarbeit obliegt.

Mein Dank gilt Judith Raab für die redaktionelle Betreuung.