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… geschrieben anlässlich des Krieges in der Ukraine, „um nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das mich anspringt, der Ohnmacht, die mich niederreißt“ …

Hier der Anfang des (unveröffentlichten) Textes mit dem Titel Die andere Geschichte:

Es schreibt uns.

Wo nur habe ich das gelesen? Oder will ich es gelesen haben, denn das hieße ja, es gibt jemanden, dort oben unter der Decke hinter den Leuchtstoffröhren, der uns beobachtet und die Erzählung steuert, auf die wir zusteuern.

Womöglich ein Gott?

Sagen wir: Dort sitzt eine wilde Frau, die den Blick überall hat, auch ohne Kameras aufstellen zu müssen. Die beobachtet und dann den Rotstift nimmt und die ein oder andere Zeile im Text ausbessert. Und schließlich das Ende umschreibt. Oder hier und da eine weitere Figur einfügt. Ja, dieses „es schreibt uns“ entspricht einem Götterbild, aber nun lass mich diese Frau sein und Göttin spielen. Nur diesen einen Tag lang werde ich es sein, die sich anmaßt, die Geschicke der Welt zu beschreiben, genauer gesagt: umzuschreiben.

An die Decke gegangen bin ich bereits, denn du, lieber Sohn, hast dich freiwillig zum Kämpfen gemeldet, was immer das heißt in diesem Zusammenhang: freiwillig. Die vermeintliche Freiwilligkeit folgt der Erzählung, dass es ein Böse gibt und ein Gut und es heldenhaft sei, eine Waffe zu tragen, und da sind wir mittendrin in dem Schlamassel, der sich offenbar noch nicht ausschlamasselt hat, so lange das Kämpfen mit Waffen als Option gesehen wird.

Aber es ist keine Option. Zu keiner Zeit. Niemals.

Und deshalb bin ich angetreten, die Erzählung zu verändern, denn sie entbehrt der Vollständigkeit, wie so viele andere vor ihr, weil die Geschichten seit Jahrtausenden aus der immergleichen Perspektive erzählt werden, geflossen aus einer männlichen Feder. Du magst behaupten, es sei gleichgültig, aus welcher Perspektive wer was erzählt, aber, mein Lieber, es sollte dir keinesfalls gleichgültig sein. Bis der Ursprung der Geschichten nicht hinterfragt wird, werden sie weiterhin allein in einer bestimmten Art und Weise verfasst, in diesem Falle als Heldengeschichte: Der Held, der losgeht, kämpft und siegt. Sie werden nach ein und demselben Muster gestrickt, an dem wir festhängen, ohne je zu überprüfen, ob die Annahme, dass uns allein die Taten voranbringen, tatsächlich hält. Die Maschen sind eng gesetzt, obgleich das Strickmuster womöglich nur eines von vielen anderen möglichen ist.

Das soll ein Ende haben.

Ja, nenn mich hybrid, aber wenigstens diese eine Geschichte hier werde ich in meinem Sinne schreiben, denk dir nur, mein Sohn. Darf ich das? Was frage ich dich! Nein, um Erlaubnis muss ich nicht bitten. Niemand hat je um Erlaubnis gebeten, eine Geschichte so oder anders zu schreiben, oder was meinst du?

So werde auch ich nicht fragen, sondern egoistisch sein und mir die Seele freischreiben, um nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das mich anspringt, der Ohnmacht, die mich niederreißt. Hilflos schaue ich dir nach und schaue mich um und setze der Hilflosigkeit das Einzige entgegen, was mir derzeit zur Verfügung steht: schreiben. Was sonst könnte ich tun, angesichts des Zustands der Welt? Die Antwort lautet: Ich kann nur tun, was ich immer tue und damit der Erzählung eine unerwartete Wendung geben, ihr möglicherweise sogar eine Lösung anhängen. Da kannst du sagen, ich sei naiv oder utopistisch oder was auch immer: Es ist die Kraft der Erzählung, die uns in die eine oder andere Richtung marschieren lässt. Und manchmal auch in den Krieg.

Stopp.

Er ist keine Option, niemals, schrieb ich das nicht bereits?

[…]