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Weltweit bricht eine Netflix-Serie alle Streaming-Rekorde: Über 64 Millionen Haushalte weltweit sahen die dritte Staffel allein in den ersten vier Wochen und verfolgten mit Spannung die Geschehnisse in Hawkins, warteten geduldig auf die vierte Staffel, die ebenso erfolgreich war; nun beginnt das Warten auf die fünfte.

Die Rede ist natürlich von Stranger Things, so der Name der von den Duffer-Brüdern für Netflix entwickelten Geschichte, die alle Menschen der älteren Generation zurückführt in die Achtziger und ihnen entzückt die Gegenstände vor Augen führt, die ihr eigenes Jugendzimmer bevölkert haben, während sie ebendort die Musik in Erinnerung ruft, die aus unseren Kassetten-tapes brummte – in miserabler Qualität, verglichen mit der, die nun überrascht aufhorchen lässt. Und auch die jüngere Generation führt sie somit in die Vorstellung der vergangenen Zeit, aber zugleich, und was viel wichtiger ist, führt sie uns alle gemeinsam zugleich hinein in die tiefen Schichten des Verdrängten. Ja, dort hockt es, das Verdrängte: im Upside Down, unter uns, oder auch über uns, in eben der Welt, die wir bewohnen, in einer Schicht, die wir lieber nicht anschauen (außer auf Netflix). Denn dort landet all das, was wir in unserer Tagwelt nicht gebrauchen zu können glauben. Das Upside Down erscheint als Sinnbild des Unbewussten, während das Unbewusste wiederum als ein Hort von Vertrautem gilt, das verdrängt werden musste, um in die symbolische Ordnung* treten zu können.

Laut Freud besteht die Funktion des ES für die Gesellschaft (in diesem Falle: für Hawkins) darin, dass der Mensch nur auf Grundlage dieses verdrängten Triebhaften eine Zivilisation errichten und als gesellschaftliches Wesen agieren kann. Er braucht also einen Ort, wo er seine unaustilgbare animalische Natur verstecken kann: Das dämonisch Fremde ist zwar ein dämonisch Eigenes, jedoch in das Vergessen gerückt.

Sollte es Stranger Things gelingen, das in Erinnerung zu rufen? Womöglich zugleich zu erzählen, wie wirksam diese Verdrängte sich global über (unter) die gesamte Welt spannt und zu einem gefährlichen Gewebe verklebt, das kaum mehr zu durchtrennen ist, sondern an mehreren Stellen der Welt gleichzeitig aufbricht und alles Lebenden bedroht, ja, das Leben als solches? Wenn dies gelänge, dann zeigte das abermals, inwieweit das filmische Erzählen seinerseits mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwoben ist und aufgreift, was allerorten spürbar ist.

Mit dieser Verwobenheit allerdings geht auch die Verantwortung einher, die erfolgreiche Serien innehalten. Denn sie sind gegenwärtig die Ausdrucksform filmischen Erzählens, der es gelingt, die größte Zahl von Menschen zu erreichen, sodass sie, gewollt oder nicht, wie alle Geschichten Einfluss nimmt auf das Bild, das wir uns von der Welt zeichnen, und von der Idee, wie wir Menschsein begreifen. Netflix wächst derzeit zu dem potentesten Geschichtenerzähler unserer Zeit und prägt maßgeblich ganze Generationen generationsübergreifend.

Und weil dem so ist, und weil in dieser Möglichkeit globalen Erzählens im Sinne der Reichweite nicht nur Macht, sondern auch Chance liegt, ist es umso wichtiger, sich eben den Erzählinhalten gewahr zu werden, ja, sie gegebenenfalls zu überprüfen.

Meine Euphorie über die Darstellung des Mechanismus‘ von Verdrängung und der offenkundigen Notwendigkeit, einen Blick in das Upside Down zu werfen, warf sich in Staffel Vier auf die Figur des Eddie Munson. Nicht nur, weil er mich an eigene Runden von Dungeons & Dragons erinnerte, denen ich einst (wenn nicht auf einem amerikanischen College, so wenigstens auf der Schwäbischen Alb) beiwohnen durfte, und ich einen Dungeon-Master bisher selten so realitätsnah in einem Film abgebildet sah, sondern gleichsam, weil Eddies forsches Auftreten, gepaart mit seinen tiefsitzenden Ängsten und Enttäuschungen, die offen zutage treten, ebenso realitätsnah erscheinen. Schließlich ist es stets begrüßenswert, Figuren zu erschaffen, die in ihrer Ambivalenz liebenswert sind und nicht durch die Attribute gut – böse, hübsch – hässlich gekennzeichnet werden, kurz: jenseits der üblichen Klischees liegen.

Aber dann wird die Figur doch wieder zum Klischee, dem der nordamerikanische Mainstream offenbar nicht entkommt (heute weniger denn je). Der Mythos des Helden scheint unausrottbar, und so muss Eddie (Achtung Spoiler!) am Ende sterben, indem er sich, wie es auf kino.de heißt „im Finale heldenhaft für die anderen Figuren opfert.“ Und Joseph Quinn, der Schauspieler, drückt es so aus: „Er hat das ultimative Opfer für eine Stadt erbracht, die ihn für ein Monster gehalten hat. Das ist ein Level an Heldenhaftigkeit, das schwer zu verstehen ist.“

Wieder transportiert die Serie an dieser Stelle doch nur die alten Botschaften, obwohl sie nicht länger zeitgemäß scheinen. Denn: Brauchen wir ihn tatsächlich noch? Den Helden, der sich unerschrocken jedem noch so aussichtslosen Kampf stellt?

Vielmehr gilt stattdessen zu bedenken und all jenen nahezubringen, die filmische Werke konsumieren: Woher stammen sie, von wem sind sie gemacht, welche Mythen werden hier transportiert?

Für mich stellt es sich so dar: Niemand sollte sinnlose Opfer erbringen, um als Held gefeiert zu werden. Dier Tod ist überflüssig. Weglaufen ist erlaubt. Feige sein ist erlaubt, zumal, wenn eine Schar wild gewordene, nennen wir sie: Fledermäuse, hinter dir her sind. Sie abzulenken, ist Eddie bereits gelungen, als er sich erinnert an seine Worte: „We are not heroes“, sich jedoch entscheidet, eben diese Erkenntnis nicht stehen zu lassen (und sich nicht zu erlauben), sondern doch noch zum Helden zu werden. Nicht abzuhauen, sondern den Viechern entgegenzutreten, um später stolz zu hauchen: „I didn’t run away this time“. Das allein scheint wichtig angesichts des Todes, führt aber letztlich zu nichts außer der Bestätigung der Idee, ein Held zeichne sich dadurch aus, bereit zu sein, das eigene Leben zu opfern, auch wenn ein Kampf nicht zweckmäßig ist und nicht auf Augenhöhe stattfindet.

Lauft weg, liebe Leute, so würde ich die Geschichte (weiter)erzählen, lauft, denn es spricht nichts gegen die Flucht, wenn die Lage aussichtslos ist. Und dann, aus dem Versteck heraus, angekommen an einem sicheren Ort, überlegt, was zu tun ist und versucht, menschlich zu handeln. Zum Menschen gehören seine Ängste, ja, all das, was verdrängt worden ist und nun im Außen versucht wird, zu bekämpfen. Richtet den Blick in euch und prüft, mit welchen Dämonen ihr es aufnehmen wollt. Am besten mit den eigenen. Womit wir wieder bei Freud wären und bei dem, was geschieht, wenn verdrängt wird, was Teil von uns Menschen ist.

Wie schön wäre es gewesen, wenn Eddie nicht als Held, sondern als Eddie geliebt worden wäre. Endlich einmal: einfach so. Ohne den Helden spielen zu müssen. Doch so wird der Preis der Heldenerzählung nicht nur mit einem Figurenleben bezahlt, sondern mit dem Gehalt der Erzählung selbst.

Aber wer weiß: Vielleicht gibt es doch noch eine unerwartete Wendung. Warten wir die fünfte Staffel ab und lesen so lange Freud. Oder hören Kate Bush:

Ooh, there is thunder in our hearts.

*(Der Begriff der symbolischen Ordnung wird von Jacques Lacan entwickelt und bezeichnet sowohl gesellschaftliche Beziehungen als auch die Struktur der Sprache. Beiden gemeinsam ist, dass sie ein System bilden, in das sich das Einzelne erst hineinfinden muss.)

… geschrieben anlässlich des Krieges in der Ukraine, „um nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das mich anspringt, der Ohnmacht, die mich niederreißt“ …

Hier der Anfang des (unveröffentlichten) Textes mit dem Titel Die andere Geschichte:

Es schreibt uns.

Wo nur habe ich das gelesen? Oder will ich es gelesen haben, denn das hieße ja, es gibt jemanden, dort oben unter der Decke hinter den Leuchtstoffröhren, der uns beobachtet und die Erzählung steuert, auf die wir zusteuern.

Womöglich ein Gott?

Sagen wir: Dort sitzt eine wilde Frau, die den Blick überall hat, auch ohne Kameras aufstellen zu müssen. Die beobachtet und dann den Rotstift nimmt und die ein oder andere Zeile im Text ausbessert. Und schließlich das Ende umschreibt. Oder hier und da eine weitere Figur einfügt. Ja, dieses „es schreibt uns“ entspricht einem Götterbild, aber nun lass mich diese Frau sein und Göttin spielen. Nur diesen einen Tag lang werde ich es sein, die sich anmaßt, die Geschicke der Welt zu beschreiben, genauer gesagt: umzuschreiben.

An die Decke gegangen bin ich bereits, denn du, lieber Sohn, hast dich freiwillig zum Kämpfen gemeldet, was immer das heißt in diesem Zusammenhang: freiwillig. Die vermeintliche Freiwilligkeit folgt der Erzählung, dass es ein Böse gibt und ein Gut und es heldenhaft sei, eine Waffe zu tragen, und da sind wir mittendrin in dem Schlamassel, der sich offenbar noch nicht ausschlamasselt hat, so lange das Kämpfen mit Waffen als Option gesehen wird.

Aber es ist keine Option. Zu keiner Zeit. Niemals.

Und deshalb bin ich angetreten, die Erzählung zu verändern, denn sie entbehrt der Vollständigkeit, wie so viele andere vor ihr, weil die Geschichten seit Jahrtausenden aus der immergleichen Perspektive erzählt werden, geflossen aus einer männlichen Feder. Du magst behaupten, es sei gleichgültig, aus welcher Perspektive wer was erzählt, aber, mein Lieber, es sollte dir keinesfalls gleichgültig sein. Bis der Ursprung der Geschichten nicht hinterfragt wird, werden sie weiterhin allein in einer bestimmten Art und Weise verfasst, in diesem Falle als Heldengeschichte: Der Held, der losgeht, kämpft und siegt. Sie werden nach ein und demselben Muster gestrickt, an dem wir festhängen, ohne je zu überprüfen, ob die Annahme, dass uns allein die Taten voranbringen, tatsächlich hält. Die Maschen sind eng gesetzt, obgleich das Strickmuster womöglich nur eines von vielen anderen möglichen ist.

Das soll ein Ende haben.

Ja, nenn mich hybrid, aber wenigstens diese eine Geschichte hier werde ich in meinem Sinne schreiben, denk dir nur, mein Sohn. Darf ich das? Was frage ich dich! Nein, um Erlaubnis muss ich nicht bitten. Niemand hat je um Erlaubnis gebeten, eine Geschichte so oder anders zu schreiben, oder was meinst du?

So werde auch ich nicht fragen, sondern egoistisch sein und mir die Seele freischreiben, um nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das mich anspringt, der Ohnmacht, die mich niederreißt. Hilflos schaue ich dir nach und schaue mich um und setze der Hilflosigkeit das Einzige entgegen, was mir derzeit zur Verfügung steht: schreiben. Was sonst könnte ich tun, angesichts des Zustands der Welt? Die Antwort lautet: Ich kann nur tun, was ich immer tue und damit der Erzählung eine unerwartete Wendung geben, ihr möglicherweise sogar eine Lösung anhängen. Da kannst du sagen, ich sei naiv oder utopistisch oder was auch immer: Es ist die Kraft der Erzählung, die uns in die eine oder andere Richtung marschieren lässt. Und manchmal auch in den Krieg.

Stopp.

Er ist keine Option, niemals, schrieb ich das nicht bereits?

[…]