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Martin Pollack in Ottensheim

Ursprünglich bereits für den November 2021 geplant, werden wir die Veranstaltung auf jeden Fall nachholen. Inzwischen müssen wir abermals einem Krieg in Europa beiwohnen, als hätte es die Aufarbeitung von Geschichte, wie Pollack sie betreibt, die Warnungen und das Waren von Erinnerung an seine Schrecken, nicht gegeben. Umso wichtiger, das Erinnern weiterhin zu betreiben, auch in Hinblick darauf, wie lang ein Krieg weiterwirkt, ebnénso wie einmal geschürter Hass und injizierte Feindbilder.

In seinem Buch zeichnet Pollack das Leben seiner Großtante Pauline in der slowenischen Marktgemeinde Lasko/Tüffer nach. Auch meine Großtante war Opfer des Krieges. Ich fragte meine Großtante und ihre beiden Schwestern, alle drei von dicken, schützenden Schichten Körper umgeben: „Wovor schützt ihr euch?“ und kannte die Antwort bereits, auch ohne sie je zu erhalten. Denn sie konnte nicht darüber sprechen und folgte damit einem unausgesprochenen Verbot: Nicht Opfer sein zu dürfen, auch unabhängig vo ihrer Gesinnung, mit der sie sich von Anfang an, wie der Vater, gegen Adolf Hitler gestellt hatte. Da sie dem „Tätervolk“ entstammte, das an einer „nationalen Schuld“ zu tragen hatte, blieben ihre Erfahrungn der Flucht aus Schlesien und die Verletzungen, die ihr aufgrund ihrer Herkunft auch als Frau zugefügt wurden, ungehört.

Ich liebte diese Großtante, ihr großes Herz hatte sie sich zeitlebens bewahrt, aber je älter ich wurde, desto mehr Fragen tauchten auf, nämlich: Wie hatte sie sich eben dieses große Herz bewahren können, nach allem, was sie erlebt haben musste? Darüber las ich in Augenzeugenberichten, die erst Jahrzehnte später verfasst worden waren, Jahrzehnte, in denen der Schmerz sich soweit gesetzt hatte, dass die einst Geflohenen ihre Sprache wiederfanden – als Form der Selbstermächtigung. Diese Sprache brach sich erst dann den Weg, als weil es manchen von ihnen unmöglich geworden war, die Erfahrungen weiterhin zurückzudrängen. Sie unter Verschluss zu halten aber mochte ihnen zuvor notwendiger erschienen sein als das Sprechen, um nicht einzuknicken, in anderen Worten: um überleben zu können.

Weiterzuleben.

Das Gefühl des Wohlbehagens zwischen dicken Decken und dicken Tanten wird herausgerissen von der Erkenntnis, dass die altruistische Großtante jeden Tag auf den Heuboden versteckt werden musste, weil der Krieg kein Schamgefühl kennt. Und auch der Frieden tut sich  schwer mit diesem Schamgefühl. Die Verbrechen der Kriege verfolgen uns alle, solange wir die Geschichten nicht thematisieren, die der Großtanten, die unsrige, die gegenwärtige.

Umso mehr freue ich mich auf die noch bevorstehende Begegnung mit Martin Pollack, und dass wir über die Auswirkungen von Krieg sprechen können, der trennt statt vereint, und Familiengeschichte ebenso prägt wie die Weltgeschichte. Wie er teile auch ich die Überzeugung, dass „wir heute alle Geschichten erzählen können, vielleicht sogar müssen, ohne Zorn und Eifer, ohne etwas zu verschweigen oder auszublenden […].“

Die Matinee mit der Lesung aus „Die Frau ohne Grab“ wird in der Ottensheimer Bibliothek stattfinden, sobald es geht.

Bis dahin lege ich jeder und jedem die Lektüre des Werkes von Martin Pollack ans Herz.

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