… Nicht einmal die siebzig Jahre, die meine Urgroßmutter nach Ende des Krieges noch weiterleben durfte, reichten aus, um sie zu enttraumatisieren. Im Gegenteil setzt sich das Trauma noch fort, indem die entsprechenden Erlebnisse zusätzlich von Generation zu Generation vererbt werden, als Gefühl verletzter und verletzbarer Grenzen zum Beispiel, das sollten wir uns bewusst machen, bevor wir etwas sagen wie Es ist verjährt, und uns lieber fragen, wie dieses Erbe die Wirksamkeit des inneren Kompasses beeinflusst. Es könnte ja sein, dass der Hass, der angesichts eines Sohnes zwischen zwei Völkern von Generation zu Generation weitergetragen wird, die Gewissenswahrheit, niemanden umbringen zu sollen, zum Verstummen bringt, denn der Hass auf die jeweils anderen wird ja dann und wann gesellschaftlich abgesegnet und deckelt in diesem Falle alle anderen möglichen Gefühle, indem er die Frage nach dem Bösen mit der Behauptung beantwortet: Das Böse ist immer das, was meinen Onkel massakriert hat, also knallen wir zurück. Nach Maßstäben der Menschlichkeit bringt das Karussell nichts außer verirrten Kompassnadeln …
(Drei Tage drei Nächte, Septime Verlag 2018, Seite 142)